Zen und Gestalttherapie

Eine Reflexion von Dipl. Päd. Barbara Schotte

 

 

Die erste Beziehung, die Marc Joslyn in seinem Artikel zwischen Zen und Gestalttherapie herzustellen sucht, ist die Erfahrung, dass man eigentlich weder über Zen noch über Gestalttherapie sprechen oder schreiben kann, wobei die Betonung auf ‘über’ liegt. Beides ist, will man wirklich etwas darüber wissen, ‘eigentlich’ nur unmittelbar erfahrbar. Joslyn definiert Zen – Erleuchtung bzw. Gestalt-Erfüllung – als die unmittelbare und vollkommene Selbstverwirklichung, wobei das ‘eigentliche Selbst’ – was auch immer es sein mag – keine Therapie benötigt. Wie im Zen so lernt man auch in der Gestalttherapie Bedingungen herzustellen, in denen oder durch die das Selbst wirken kann. Selbsternanntes Ziel sowohl von Zen als auch Gestalttherapie ist die Erfahrung, dass es kein Ziel außerhalb der eigenen Handlungen und Erfahrungen gibt. Eines der wichtigen Stichworte auf dem Weg zur Erlangung dieser Erleuchtung bzw. Erfüllung ist die Aufmerksamkeit.

 

Zen-Meister versuchen diese Aufmerksamkeit ihrer Schüler und Schülerinnen durch verblüffende, manchmal paradoxe Aufforderungen und bestimmte Handlungen oder durch Fragen oder aber paradoxe, mit dem menschlichen Verstand nicht erklärbaren Antworten zu erlangen. Es geht hier um die Durchbrechung unserer Alltagserfahrungen.

 

Perls hatte in diesem Sinn ein großes Repertoire von Fragen und Antworten, um die Aufmerksamkeit des Einzelnen auf die jeweilige Situation zu lenken. Er fragte oft „Was“, „Wo“ und „Wie“, also eher Fragen nach den Umständen, selten stellte er Fragen nach den Gründen, nach dem „Warum“, denn das Aufspüren der Gründe führte nach Perls Meinung zu genau der Distanz von sich selbst, die er vermeiden wollte. Wie im Zen so soll auch in der Gestalttherapie unmittelbares Schauen und unmittelbare Aufmerksamkeit erlangt werden im Hier und im Jetzt.

 

Unter dem Hier und Jetzt versteht Joslyn auch das Ewige, die Unendlichkeit, etwas Absolutes, das Nichts, u.a. auch die eigene Identität im Hier und Jetzt. Vergangenheit und Zukunft existieren nur in der Gegenwart. Das führt dazu, dass man/frau sich immer nur dem nächstliegenden Ereignis hingeben sollte, was sich wiederum daraus ergibt, „Wann“ der Einzelne „Wo“ „Was“ ist. Perls nennt diesen Vorgang, dieses sich Hingeben an das Hier und Jetzt einen „Selbstregulierungsprozess“, in dem das wahre Selbst aller Menschen, Tiere, Pflanzen und Berge etc. sitzt.

 

Viele Zen-Geschichten berichten davon, wie der Schüler oder die Schülerin durch seinen Zen-Meister aufgefordert wird, immer nur dieses Nächstliegende zu tun. Erst Tee kochen, die Tasse füllen, den Tee trinken und die Tasse wieder abwaschen – man erinnere sich hier an die Tee-Zeremonie der Japaner, deren Ursprung im Zen liegt –, wodurch so mancher Schüler seine Erleuchtung erlangt hat.

 

Beide Lehren, sowohl Zen als auch Gestalttherapie, sind im eigentlichen Sinn keine Lehren von oder über etwas. Gestalttherapeut und Zen-Meister sehen ihre Aufgabe vielmehr darin, den Menschen in eine Beziehung zu diesem allumfassenden „Selbstregulierungsprozess“ zu bringen, ihnen zu helfen, das IST zu sehen und das SOLLTE SEIN zu überwinden, zu vergessen.

„Es ist wie es ist; es ist, wie es sein sollte und es sollte sein, wie es ist.“

Eine weitere Beziehung zwischen Zen und Gestalttherapie ist die Frage nach Identität bzw. deren Definition, was ist eigentlich Identität?

Ich möchte diesen Zusammenhang bzw. Erklärungsansatz für Identität anhand eines Beispiels verdeutlichen. Will ein/e Zen-Schüler/in z.B. einen Drachen malen, so muss er/sie erst vollständig zu einem Drachen werden, muss die Identität eines Drachen annehmen, um ihn dann, aus der folgenden Distanz Mensch – Drache, mit der zuvor erfahrenen Drachen-Identität malen. Diese Form der Erfahrung dauert Jahre bzw. Jahrzehnte und gilt auch für asiatische Kampfsport- und Meditationsarten. Aber das Ergebnis ist zum Beispiel der vollendete Kreis, der mit einem Pinselstrich (Kalligrafie und s.w. Dürckheim u.a.) ausgeführt wird.

 

Perls wendet eine ähnliche Technik bei der Traumarbeit an. Er ging davon aus, dass der/die Träumende vollständig alle Gegenstände, auch alle unbelebten Gegenstände, alle Personen in seinen/ihren Träumen verkörpert. Joslyn und Perls führen diesen Ansatz weiter. Zen-Meister und Gestalttherapeut sagen, dass der Einzelne das ganze Universum ist und auch umgekehrt, das ganze Universum ist das Ich, dass nur das wahrgenommen werden kann, was Teil der eigenen Identität ist. Soweit der Erklärungsansatz für die Definition von Identität als Begriff.

 

Perls formulierte das, was Freud den Wiederholungszwang nannte, als eine unerledigte Situation aus der Vergangenheit, die sich immer wieder in die Gegenwart, im Hier und Jetzt in den Vordergrund drängt und dadurch den Selbstregulierungsprozess behindert. Tu immer einen Schritt nach dem anderen, dann drängt sich nichts in den Vordergrund, was nicht dahin gehört. Perls selber meinte wohl, – er befindet sich hier wiederum in einer engen Beziehung zum Zen – dass sich aus der gegebenen Situation immer die nächste ergibt und dass dieses mühelos gelingt, lässt man/frau das „wahre Selbst“ handeln.

Das erinnert an Zen-Geschichten aus dem Buch „Wunderbare Katze“ von K. Dürckheim. Der Autor beabsichtigt, asiatische Kunst dem westlichen Leser näher zu bringen. Für asiatische Kunst und Sportarten, insbesondere für die Kunst des Bogenschießens gilt der Grundsatz, das wahre Selbst wirken zu lassen, wie auch der vollendete gemalte Kreis nur vom wahren Selbst erreicht werden kann. Es erfordert Jahre der Geduld, das „eigentlich uneigentliche“ Ziel zu überwinden, zu vergessen, nämlich mit dem Pfeil des Bogens ins Schwarze zu treffen. Der Schüler soll zu dem Bogen werden, sein Arm wird der Pfeil und der Meister nimmt dem Schüler den Bogen oft schon aus der Hand, bevor er überhaupt richtig eingelegt ist. Das führt zu Beginn häufig zu großer Frustration, die es zu überwinden gilt. Es wird eine Situation geschaffen, in der das wahre Selbst handelt, ohne jenen Egoismus, der sonst Kunst und Sport kennzeichnet. Es gilt nicht, zu gewinnen.

 

Ein weiteres Stichwort in dem Vergleich zwischen Zen und Gestalttherapie ist das Spielen von Rollen. In der Gestalttherapie sind Tagträume und Grübeleien Gestalten des eigenen Seins, jeder Teil des Traumes ist Produkt unseres Seins. Das Problem dabei ist, dass wir vergessen, dass alles, was wir tun, gespielte Rollen sind, immer und jederzeit. Man kann sich von diesem Zwiespalt nur lösen, indem man erkennt, dass es keine Loslösung gibt, so paradox es auch klingen mag. Man muss erkennen, dass es keine Freiheit gibt, dass das eigene Ich kein abgeschlossenes Wesen ist, dass es nicht unabhängig und frei ist. Für Perls ist bzw. besser war der „Kern der Weisheit das Wissen darüber, dass wir immer spielen“ (S. 215) mit der Betonung auf immer. Im Zen heißt es, das, wenn ich eine Rolle vollständig spiele – mich mit ihr identifiziere – ich frei von der Rolle bin.

 

Der leere Stuhl in der Gestalttherapie ist wie der leere Spiegel, vor dem der Zen-Schüler und Zen-Meister meditiert. Dem Gespräch wird im Zen  eine ähnliche Bedeutung beigemessen wie in der Gestalttherapie. Koans beschreibt sind knappe, dafür aber intensive Gespräche zwischen einem Erleuchteten und seinem Schüler, durch die der noch nicht Erleuchtete Satori (Erleuchtung) erlangen soll, d.h. er soll das freie Selbst sehen, das in allem und in nichts ist, losgelöst vom Ich und gleichzeitig fest integriert im Ich. Koan beschreibt paradoxe und rätselhafte Aussagen eines Zen-Meisters, die zum Reflektieren und Meditieren anregen. Ein Koan ist z.B. die Frage, du weißt wie sich das Klatschen mit zwei Händen anhört, wie klingt das Klatschen mit einer Hand?

 

Eine weitere Beziehung zwischen Zen und Gestalttherapie liegt in der Art, wie mit Problemen umgegangen wird. Beide Lehren verwirren zunächst den Geist des Schülers bzw. Patienten. Der Gestalttherapeut frustriert den Klienten, indem er sich als Ansprechpartner zurück zieht und den Patienten mit seinem jeweiligen Problem, das auf dem „leeren“ Stuhl sitzt, allein lässt. Und: das Gedächtnis ist kommunikativ, leere Stellen werden aufgefüllt.[1] Der Therapeut fordert ihn auf, das Problem zu benennen und zu ‘haben’ (paradoxe Absicht). Der Stein, über den wir als Kind gestolpert sind und wegen dem wir uns das Bein gebrochen haben, bleibt in der Erinnerung immer da liegen.

 

Der Zen-Meister dagegen verwirrt seinen Schüler dadurch, dass er in ein und derselben Angelegenheit eine negative und gleichzeitig eine positive Meinung vertritt. Zen und Gestalttherapie lässt sich mit radikalem Empirismus bzw. Existentialismus vergleichen. Alle drei Richtungen oder Philosophien führen den Einzelnen zurück zu den tatsächlichen Gegebenheiten, zu dem, was wirklich passiert in der aktuellen Situation, jetzt und hier. Nicht das Wort ist ausschlaggebend, nicht woran wir glauben ist wichtig, bedeutsam allein ist die Handlung, das Tägliche aufmerksam tun.

 

Die größte Freiheit im Zen liegt wohl darin, dass das Ja zugleich auch ein Nein sein kann, dass das Volle zugleich auch das Leere ist, dass das Endliche zugleich unendlich ist. Indem ein Problem vollständig akzeptiert, bejaht wird durch vollständige Verneinung kann es auch gelöst werden, so jedenfalls erhofft es sich der jeweilige Zen-Meister und der Gestalttherapeut. Über diese erfolgreiche Praxis im Zen gibt es zahlreiche Belege in der Literatur.

 

Es lassen sich viele Parallelen zwischen Zen und Gestalttherapie zeichnen. Man kann eine enge Beziehung zwischen Zen und Gestalttherapie aufzeigen, Perls ist vom Zen-Buddhismus beeinflusst und dadurch wohl auch die Gestalttherapie an sich, obwohl sich bei Perls selbst nur Hinweise finden lassen, die diese Vermutung bestätigen.

 

Sowohl Zen-Meditation als auch Gestalttherapie verändern sich mit und durch jeden Menschen, jeder deutet Geschriebenes und Ungeschriebenes, mündlich Überliefertes anders. Weder Zen noch Gestalttherapie ist über einen theoretischen Zugang wirklich vermittelbar.

 

Es gibt kein Ziel außerhalb des Individuums.

 

Literatur

 

„Zen und Gestalttherapie“ von Marc Joslyn, Claremont, erschienen in der Zeitschrift für Integrative Therapie, Heft 3/4, 1977

 

Weiterführende Bücher, die mich inspiriert haben:

 

„Wunderbare Katze und andere Zen-Texte“ von Karlfried Graf von Dürckheim, O. W. Barth bei Scherz

„Das Ich, der Hunger und die Aggression“ von Fritz Perls, Klett-Cotta 3. unv. Aufl. Stuttgart 1985

„Der leere Spiegel“ Erfahrungen in einem japanischen Zen Kloster von Janwillem van de Wetering. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1981

„Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert M. Pirsig, Fischer Taschenbuch Verlag  Frankfurt am Main1986

„Zen-Kunst“ von Hugo Munsterberg, dumont Köln 1978

 

[1] An das Feuer in Dresden können sich auch viele Menschen erinnern, die nachweislich nicht dabei gewesen sind. Sie haben die leeren Stellen mit Bildern aufgefüllt.


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